Hildegard von Bingen - Waren ihre Visionen Haloerscheinungen?

Darstellung der ersten Schau im Werk "Liber divinorum operum". Die oberen Flügel entsprechen dem Parrybogen. Die Flügel darunter dem oberen Berührungsbogen. Die Gestalt besteht aus der oberen und unteren Lichtsäule. Das Lamm in seinen Händen ist die Sonne und die Schlange unter ihren Füßen der 22°-Halo zusammen mit dem unteren Berührungsbogen.
Hildegard von Bingen wurde im Jahre 1098 auf Gut Bermersheim bei Alzey geboren. Aus Anlaß ihres 900. Geburtstages fanden 1998 zahlreiche Ausstellungen und Vorträge statt und auch die Medien berichteten über Hildegards Vita. In Hildegards Lebensmittelpunkt standen Lichterscheinungen, die sie immer wieder am Himmel sah. Sie deutete die Lichterscheinungen als göttliche Visionen und schrieb sie in ihren Büchern nieder.

Nachdem ich bereits zu der Auffassung gelangt war, daß die Johannesoffenbarung auf ein Halophänomen zurückzuführen ist, habe ich angefangen, auch die Bücher Hildegards auf Haloerscheinungen zu überprüfen. Schon auf den ersten Blick wurde deutlich, daß ihre Visionen viele Parallelen zu Haloerscheinungen aufweisen.

Haloerscheinungen sind geometrische Formen am Himmel, die durch Brechung und Spiegelung des Sonnenlichts an Eiskristallen hervorgerufen werden. Halos bestehen daher nur aus Licht. Sie können in seltenen Fällen blendend hell werden.

Die Büchern Hildegards bestehen aus so vielen Visionen, daß die Analyse noch einige Monate dauern wird. Auf diesen Seiten sollen die ersten Ergebnisse veröffentlicht werden. Ich beginne zunächst mit ihrem Werk "Liber divinorum operum". Dabei wird jeweilige "Schau" zunächst zitiert und dann erläutert um welche Haloerscheinung es sich handeln könnte. Im Anschluß daran werden dann auch Visionen im Werk "Scivias" (Wisse die Wege) auf Haloerscheinungen überprüft.

Liber divinorum operum - Vorspruch

"Und es geschah im sechsten Jahre, nachdem ich mich bereits fünf Jahre lang mit wunderbaren Visionen abgemüht hatte. In diesen Visionen hatte eine wahre Schau des unvergänglichen Lichtes mir, einem völlig ungebildeten Menschen, die Mannigfaltigkeit der verschiedenen Lebensweisen gezeigt.

Es war zu Beginn des ersten Jahres der vorliegenden Visionen, als sich dieses ereignete; und ich stand in meinem fünfundsechzigsten Lebensjahr. Da hatte ich eine Schau, so tief und geheimnisvoll und überwältigend, dass ich davon am ganzen Leibe erbebte und bei meiner körperlichen Gebrechlichkeit zu erkranken begann. Sieben Jahre lang schrieb ich an dieser Vision und konnte kaum damit fertig werden.

Es war im Jahre 1163 der Menschwerdung des Herrn, als die Unterdrückung des römischen Stuhls sich noch nicht gelegt hatte, unter Friedrich dem römischen Kaiser.(...)"
Im Gegensatz zu den Haloerscheinungen in der Bibel (Johannesoffenbarung, Visionen von Daniel und Ezechiel) gibt es bei Hildegard den Vorteil, dass sie Angaben zum Zeitpunkt der Erscheinung macht. Sie hatte die Vision zu Beginn des Jahres des Jahres 1163. Wahrscheinlich hielt sie sich in ihrem Kloster auf dem Rupertsberg bei Bingen auf. Allerdings hat sie in den Jahren 1161-1163 auch Predigtreisen unternommen, so dass der Ort nicht mit Sicherheit bekannt ist. Ort und Zeit sind bei Haloerscheinungen von großer Bedeutung, da die Form der Halos von der Sonnenhöhe abhängig ist. Da Hildegard ihre Beobachtung zu Jahresanfang gemacht hat, wird die Sonnenhöhe nicht mehr als 20° betragen haben. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass im Jahre 1582 der Gregorianische Kalender eingeführt wurde. Auf den 4. Oktober 1582 folgte unmittelbar der 15. Oktober 1582. Dies hat zur Folge, dass heutzutage der Sonnenhöchststand in Bingen z.B. am 1. März etwa 31° beträgt. Im Jahre 1163 betrug er am 1. März dagegen etwa 36°. Die Sonne konnte daher 1163 im Januar etwas höher steigen als heute.

Ein weiterer Aspekt ist, dass in der kalten Jahreszeit auch Eisnebel entstehen kann. Eisnebel erzeugt die hellsten und auffälligsten Haloerscheinungen. Außerdem kann man im Eisnebel auch Halos unterhalb des Horizontes sehen.

Liber divinorum operum - 1. Schau

"Und ich schaute im Geheimnisse Gottes inmitten der südlichen Lüfte ein wunderschönes Bild. Es hatte die Gestalt eines Menschen. Sein Antlitz war von solcher Schönheit und Klarheit, daß ich leichter in die Sonne hätte blicken können als in dieses Gesicht. Ein weiter Reif aus Gold umgab ringsum sein Haupt. In diesem Reif erschien oberhalb des Hauptes ein zweites Gesicht, wie das eines älteren Mannes. Dessen Kinn und Bart rührten an den Scheitel des ersten Kopfes. Vom Hals der Gestalt ging beiderseits ein Flügel aus. Die Flügel erhoben sich über den erwähnten Reif und vereinigten sich oben. Am obersten Teil der Krümmung des rechten Flügels erschien der Kopf eines Adlers. Dessen Augen waren wie Feuer, und es erstrahlte in ihnen wie in einem Spiegel der Engel Glanz. Auf dem obersten Teil der Krümmung des linken Flügels war ein Menschenhaupt, das leuchtete wie der Sterne Funkeln. Beide Gesichter waren nach Osten gewandt. Von den Schultern dieser Gestalt ging ein Flügel bis zu den Knien. Sie war gewandet in ein Kleid, das der Sonne gleich erglänzte. In ihren Händen trug sie ein Lamm, das leuchtete wie ein lichtklarer Tag. Mit ihren Füßen zertrat die Gestalt ein Ungetüm von entsetzlichem Aussehen, giftig und schwarz, und eine Schlange. Diese hatte sich in das rechte Ohr des Ungetüms verbissen. Ihr Leib schlang sich quer um den Kopf des Ungetüms; ihr Schwanz reichte auf der linken Seite bis an die Füße."
Die Gestalt, die Hildegard im Süden sieht, ist die Kombination von oberer und unterer Lichtsäule. Der weite Reif aus Gold ist ein Teil des 22°-Halos. Bei den Flügeln handelt es sich um den oberen Berührungsbogen, der sich über den 22°-Halo erhebt und an der Oberseite beginnt. In ihren Händen trägt die Gestalt ein Lamm, das leuchtet wie ein lichtklarer Tag. Vermutlich war das Lamm die Sonne selbst, da Hildegard nicht davon spricht, daß die Gestalt ihre Hände ausgestreckt hat. Aus ihrer Sicht blickt die Gestalt nach vorne und tragt mit beiden Händen vor ihrem Bauch das Lamm. Wenn die Gestalt aus oberer und unterer Lichtsäule besteht, dann ist die Sonne dort, wo Hildegard das Lamm sieht.
Das Ungetüm unter den Füßen (untere Lichtsäule) der Gestalt ist der untere Berührungsbogen zum 22°-Halo, die Schlange der untere Teil des 22°-Halos. Die Sonnenhöhe hat etwa 20° betragen. Bei dieser Sonnenhöhe befindet sich der untere Berührungsbogen noch unterhalb des Horizontes, so daß Hildegard diese Erscheinung im Eisnebel gesehen haben muß. Das zweite Gesicht oberhalb des Kopfes ist die aufgehellte Fläche zwischen Parrybogen und oberem Berührungsbogen. Der Flügel der bis zu den Knie geht ist ein Teil des 22°-Halos. Der Adler und das Menschenhaupt am linken und rechten Flügel dürften Teile des Parrybogens gewesen sein. In Betracht kommen aber auch Bruchstücke des Supralateralbogens, die dann allerdings nicht direkt am obersten Teil der Krümmung der Flügel liegen.

Liber divinorum operum - 2. Schau

"Alsdann erschien mitten in der Brust der erwähnten Gestalt, die ich inmitten der südlichen Luft erschaut hatte, ein Rad von wunderbarem Aussehen. Es hatte Zeichen an sich, die es jenem Bilde ähnlich machten, das ich vor achtundzwanzig Jahren, damals in der Gestalt von einem Ei, gesehen hatte, so wie es in der dritten Vision des Buches "Scivias" geschildert wurde. An seinem obersten Teil erschien rings um die Eirundung ein Kreis von helleuchtendem Feuer und unter diesem Kreis ein anderer von schwarzem Feuer. Der hellichte Kreis war zweimal so dick wie der schwarzfeurige. Und diese beiden Kreise verbanden sich so, als bildeten sie nur einen. Unter dem schwarzfeurigem Kreis erschien ein anderer wie aus reinem Äther, so dicht, wie die beiden anderen zusammen. Unter diesem Ätherkreise sah man einen Kreis wie von wasserhaltiger Luft, der in seinem Umfang die gleiche Dichte wie der lichthelle Feuerkreis hatte. Unter diesem Kreis von wasserhaltiger Luft erschien ein anderer von starker weißer Klarluft, der in seiner Härte wie eine Sehne im menschlichen Körper aussah. Er hatte dieselbe Dichte wie der Kreis von schwarzem Feuer. Auch diese beiden Kreise verbanden sich so, daß sie eins zu sein schienen. Unter dieser starken weißen Klarluft zeigte sich schließlich noch eine andere dünne Luftschicht, die zuweilen hohe, lichte und dann wieder tiefhängende, dunkel Wolken in die Höhe zu tragen und sich über diesen ganzen Kreis hin auszudehnen schien. Alle diese sechs Kreise waren ohne einen weiteren Zwischenraum untereinander verbunden. Der oberste Kreis durchströmte mit seinem Licht die übrigen Sphären, der mit der wasserhaltigen Luft aber benetzte alle anderen mit seiner Feuchtigkeit."
Auf den ersten Blick scheint diese Vision sehr kompliziert zu sein. Man muß es sich so vorstellen, daß Hildegard mehrere Sphären von Kreisen sieht, die dicht aneinander liegen (“All diese Kreise waren ohne Zwischenraum miteinander verbunden”). Die sechs Kreissphären beschreiben den 22°-Halo und den Innenraum des 22°-Halos. Es handelt sich also nur um eine Haloart.
  1. Kreis von helleuchtendem Feuer: weiße Außenseite des 22°-Halos
  2. Kreis von schwarzem Feuer: rote Innenseite des 22°-Halos
  3. Kreis aus reinem Äther: Äußere Bereich innerhalb des 22°-Halos
  4. Kreis aus wasserhaltiger Luft: Bereich innerhalb des 22°-Halos
  5. Kreis aus starker weißer Klarluft: heller Bereich direkt um die Sonne
  6. dünne Luftschicht: Träger der Wolken
"Von dem Anfangspunkte der Ostseite des Rades erstreckte sich gegen Norden hin bis zum Ende der Westseite eine Linie, welche die Nordzone von den übrigen Gebieten gleichsam abschnitt. Außerdem war mitten in der Sphäre mit der dünnen Luft eine Kugel zu sehen, die rings von der starken, weißen und leuchtenden Luft gleich weit entfernt war. Die Querausdehnung der Kugel entsprach der Tiefe des Raumes von dem obersten Teil des ersten Kreises bis zu den äußersten Wolken, oder aber er erstreckte sich von der Entfernung der Wolken bis zur Höhe dieser Kugel."
Die Linie, die an der Ostseite des Rades beginnt, ist der Horizontalkreis, der über den Norden bis hin zum Westen sichtbar war. Die Kugel befand sich inmitten der Sphäre mit der dünnen Luft (Innenbereich des 22°-Halos). Daher kommt für die Kugel nur die Sonne selbst in Betracht.
"Inmitten dieses Riesenrades erschien die Gestalt eines Menschen. Sein Scheitel ragte nach oben, die Fußsohlen reichten nach unten bis zur Sphäre der starken weißen und leuchtenden Luft. Rechts waren die Fingerspitzen der rechten Hand, links die der linken Hand nach beiden Seiten in Kreuzform zu der Kreisrundung hin ausgestreckt. Genauso hielt die Gestalt die Arme ausgebreitet."
Andeutungsweise ist hier ein Lichtkreuz zu sehen.
Bei der Gestalt handelt es sich um die Kombination von oberer und unterer Lichtsäule mit dem Horizontalkreis (Arme). Diese Haloarten ergeben zusammen ein Lichtkreuz in dessen Mitte die Sonne steht.
"In Richtung dieser vier Seiten erschienen vier Köpfe: der Kopf eines Leoparden, eines Wolfes, eines Löwen und eines Bären. Über dem Scheitel der Gestalt, in der Sphäre des reinen Äthers, sah ich am Haupte des Leoparden, wie dieser aus seinem Munde einen Hauch ausblies. (...)"
Die vier Köpfe sind die beiden Nebensonnen sowie die aufgehellte Fläche zwischen oberem Berührungsbogen und Parrybogen (Leopard, der einen Hauch ausbläst) und die starke Aufhellung am unteren Berührungsbogen.
Die Figur innerhalb des roten Kreises (22°-Halo) ist die Kombination von oberer und unterer Lichtsäule mit dem Horizontalkreis (ausgetreckte Arme). Unterhalb des Kreises sieht man noch Füße. Dabei handelt es sich um den unteren Berührungsbogen.

Liber divinorum operum - 5. Schau

"Alsdann sah ich den Erdkreis in fünf Gebiete aufgeteilt: Ein Teil lag nach Osten, ein anderer nach Westen, der dritte nach Süden, der vierte nach Norden, der fünfte in der Mitte. Ost- und Westteil waren gleich groß im Umfang und hatten jeder die Gestalt eines gespannten Bogens. Ebenso hatten der Süd- und Nordteil das gleiche Maß; ihre Länge und Breite glichen den ersten beiden Bögen, nur erschienen sie in ihren Innengrenzen wegen der bogenförmigen Gestalt der ersten Bögen wie abgestumpft. Auch sie glichen, von diesen Verkürzungen abgesehen, einem gespannten Bogen.

Die beiden anderen Teile, der Süd- und Nordteil, waren in drei Partien zerlegt, wovon die beiden mittleren Teile gleicher Form waren und dasselbe Maß hatten. Die übrigen vier Teile, die am Rand lagen, hatten eine andere, gleichwohl entsprechende Gestalt und entsprechenden Abstand; sie waren darin an Länge und Breite den beiden mittleren Partien in etwa gleich, nur erschienen sie an ihren Innengrenzen verkürzter, an den äußeren Grenzen aber erweiterter als die beiden anderen Teile. Entsprechend den Verhältnissen, wie sie oben von den Ost- und Westteilen erwähnt wurden, krümmten auch sie sich und boten hier einen mehr verkürzten, dort einen mehr erweiterten Raum. Der fünfte dieser Teile, der in ihrer Mitte lag, hatte die Form eines Vierecks und war hier von Hitze, dort von Kälte und an einer anderen Stelle mit mäßig warmer Luft erfüllt.

Der erwähnte Ostteil leuchtete mit großer Helligkeit, der Westteil war etwas von Finsternis überdeckt und daher dunkler, während der südliche Teil in drei Bezirke zerfiel. Die beiden Randgebiete waren erfüllt von Strafen, während die dritte mittlere Partie zwar frei war von Strafen, sich dafür aber durch andere furchtbare Ungeheuer als entsetzlich erwies. Der nördliche Erdteil hatte ebenfalls drei Bezirke, deren beide äußersten Abteilungen sich von den verschiedensten Strafen erfüllt zeigten, während der mittlere Teil sich mit seinen zahlreichen Schrecken und Strafen als entsetzlich erwies. Gegen Osten hin sah ich über die Rundung der Erde in einer gewissen Erhebung eine rote Kugel, die ein saphirfarbener Kreis umgab. Von der rechten und linken Seite der Kugel gingen je zwei Flügel aus, von denen sich auf jeder Seite des Kreises je einer in die Höhe streckte, so daß diese beiden sich einander zubeugten und sich ansahen, während die beiden anderen von den beiden unteren Teilen bis zur Mitte der Erdenrundung herniederstiegen, so daß sie diese außerhalb des Firmaments umfaßten und bedeckten. Von dieser Mitte streckte sich ein roter Kreis wie ein Bogen aus und umfaßte den gesamten äußeren Teil des Westens mit Ausnahme von gewissen Bezirken, die außerhalb dieser Rundung lagen, und zwar so, daß er sich vom Ende des erwähnten Ostflügels nach Westen bis zum Ende des nördlichen Flügels krümmte. Von dieser Rundung aus nach Osten erschien innerhalb der erwähnten Flügel gleichsam ein Gebäude, das sich bis zu der genannten Kugel erhob. Von dieser Kugel aus erstreckte sich aufwärts bis zur Mitte der erwähnten Flügel eine Straße, über der gleichsam ein heller Stern aufleuchtete.

Alsdann sah man zwischen den Spitzen dieser Flügel eine Feuerkugel, die nach allen Seiten ausstrahlte. Von der Höhe der beschriebenen Erdrundung aus bis zu der erwähnten roten Kugel, wie auch von dieser Kugel bis zu dem ebengenannten hellen Stern, von diesem Stern aber bis zu der genannten Feuerkugel bestanden dabei gleiche Abstände. Zwischen den vorderen Flügeln an jeder Seit der erwähnten Straße, von der erwähnten Kugel gegen den genannten Stern bis zu der beschriebenen Feuerkugel waren bestimmte Strahlen der Gestirne zu unterscheiden.

Gegen Westen erschien außerhalb der Rundung der Erde Finsternisse, die von beiden Teilen dieser Rundung bis zu ihrer Mitte, zu der auch die beiden Flügel heruntergingen, sich wie ein Bogen ausspannten. Zwischen der West- und Nordecke klafften zwei andere dichtere und noch gewaltigere Finsternisse, als wären sie deren Maul und Rachen. Von diesen unermeßlichen Finsternissen wußte ich nur, konnte sie aber nicht sehen. Und abermals hörte ich die Stimme vom Himmel, die zu mir sprach: (...)"
Übersetzung: Heinrich Schipperges
Die Zeichnung muß um 90° im Uhrzeigersinn gedreht werden, damit sie den Haloerscheinungen nahekommt. Zeichnung aus dem Codex Latinus
Computersimulation der Halos, Sonnenhöhe 20° Der Erdkreis den Hildegard beschreibt, ist der 22°-Halo. Die Einteilungen innerhalb des 22°-Halos entstehen durch den Horizontalkreis und den Sonnenbogen (!). "Von der rechten und linken Seite der Kugel gingen je zwei Flügel aus, von denen sich auf jeder Seite des Kreises je einer in die Höhe streckte, so daß diese beiden sich einander zubeugten und sich ansahen,...". Bei diesem Flügelpaar handelt es sich um den Parrybogen. "...,während die beiden anderen (Flügel) von den beiden unteren Teilen bis zur Mitte der Erdenrundung herniederstiegen, so daß sie diese außerhalb des Firmaments umfaßten und bedeckten." Dieses Flügelpaar ist der obere Berührungsbogen. Der Bereich in der Mitte des Erdkreises ist die aufgehellte Fläche um die Sonne herum.

Liber divinorum operum - 7. Schau

"Und wiederum schaute ich: eine gewaltige Stadt. Sie war im Viereck angelegt und teils von einem besonderen Glanz, teilweise von gewissen Finsternissen ringsum wie von einer Mauer umgeben. Inmitten der östlichen Gegend erblickte ich einen gewaltig hochragenden Berg aus hartem und hellem Gestein, in der Form eines feuerspeienden Berges, von dessen Gipfel gleichsam ein Spiegel von solcher Herrlichkeit und Reinheit aufleuchtete, daß er der Sonne Glanz zu überstrahlen schien. In dem Spiegel erhob sich eine Taube mit ausgebreiteten Flügeln, als wolle sie auffliegen. Dieser Spiegel barg zahlreiche Geheimnisse in sich. Er entsandte einen Glanz von großer Breite und Höhe, in dem zahlreiche Mysterien und vielfältige Gestalten verschiedenster Figuren erschienen."
Wie in der Johannesoffenbarung beschreibt Hildegard die Stadt als ein Viereck. Der Horizontalkreis ist dagegen kreisförmig. Dennoch kommt für die Stadtmauer nur der Horizontalkreis in Betracht. Es ist möglich, daß Hildegard ebenso wie Johannes an die heilige Stadt Jerusalem gedacht hat, als sie die Vision hatte. Jerusalem wird in der Bibel mit quadratischem Grundriß beschrieben. Möglich ist aber auch, daß der Horizontalkreis subjektiv bei tiefem Sonnenstand als quadratisch empfunden wird. Der Berg ist der 22°-Halo, der nun nicht mehr vollständig zu sehen ist, sondern nur noch sein oberer Teil. Auf ihm ist ein Spiegel, der “der Sonne Glanz zu überstrahlen schien”. Dabei handelt es sich um den stark aufgehellten Bereich zwischen oberem Berührungsbogen und Parrybogen. Die ausgebreiteten Flügel der Taube entsprechen dem oberem Berührungsbogen.
"In dem gleichen Glanz, nach Süden hin, erschien eine Wolke, oben leuchtendweiß und unten schwarz. Auf ihr erglänzte eine große Schar von Engeln, von denen einige wie Feuer, andere klar leuchtend, die dritten wie Sterne strahlten. Sie alle wurden von einem Windhauche wie brennende Leuchten bewegt. Auch waren sie voll von Stimmen, die wie das brausen des Meeres ertönten. Und jeder Wind ließ seine Stimme mit Zornesgewalt erschallen und entfesselte damit ein Feuer gegen die geschilderte Schwärze der Wolke. Hierdurch entbrannte jene Wolke ohne Flamme auf die Schwärze zu. Bald aber blies er in sie hinein und ließ sie wie dichten Rauch entschwinden und vergehen. Auf diese Weise jagte er die Wolke in ihrer Auflösung vom Süden über den besagten Berg gegen Norden in einen unermeßlichen Abgrund. Sie konnte sich von nun an nicht mehr erheben, ließ vielmehr nur noch eine Nebelschicht über die Erde hinziehen."
Hier beschreibt Hildegard Wolken. Teilweise lösen sich die Wolken in dichtem Rauch auf. Möglicherweise beschreibt sie damit Virga Fallstreifen, die sehr helle Haloerscheinungen hervorrufen könne. In den Wolken leuchtet es rot und weiß auf. Da Hildegard nicht die genaue Lage angibt, läßt sich nicht genau sagen, um welche Haloarten es sich gehandelt hat. Möglicherweise waren es Teile von Nebensonnen, dem Supralateral- oder dem Infralateralbogen.
"Und ich hörte Posaunen vom Himmel erschallen und tönen: Was ist doch das, was bei aller Stärke seiner Eigenkraft verfiel? Und so erstrahlte der weiße Teil der genannten Wolke noch herrlicher als zuvor. Dem Winde aber, der mit seiner dreifachen Stimme die Schwärze dieser Wolke verjagt hatte, konnte nunmehr keiner wiederstehen. Und abermals hörte ich eine Stimme vom Himmel sprechen: (...)"
Auch hier werden wieder Wolken beschrieben. Gerade Wolken aus Eiskristallen können in der Nähe der Sonne hell aufleuchten.
Die Stadtmauer ist der Horizontalkreis, der Berg der 22°-Halo, die Flügel der Taube der obere Berührungsbogen. Sonnenhöhe etwa 10°. Die Zeichnung stimmt nicht ganz mit den Haloerscheinungen überein. Die Taube hätte innerhalb des Stadtmauer auf dem Berg gezeichnet werden müssen.
Zusammengefasst von Mark Vornhusen.